Samstag 22:30 Uhr, ich radle mit meinem Hund Gassi. Die Straßen sind dunkel und menschenleer, nirgends ein Licht. Als ich die Fußgängerzone überquere, springt plötzlich ein Typ vor mein Fahrrad.
In jeder Großstadt hätte ich Angst bekommen. Aber wir sind in der Provinz! Ich lebe in einer beschaulichen Kleinstadt mit 50.000 Einwohnern. Jeder kennt hier jeden. Der „Typ“ aus dem Off ist ein Kumpel. Er hat mich „überfallen“, nicht, weil er Böses vorhat, sondern weil er mich noch auf einen Absacker überreden will.
„Auf, trink doch noch eine Schorle mit uns“, sagt er und lockt mich in die kleine Eckkneipe. Hier geht es wie immer hoch her. Lautstarke Unterhaltungen und heiße Diskussionen. Thema ist die Rede des Oberbürgermeisters tags zuvor, der die Verkehrsplanung unseres Städtchens mal wieder nicht im Griff hat. Finden die einen…
Genau hier, zwischen all den „normalen“ Menschen, nimmt das Leben für mich seinen Lauf. Es ist weder hip, noch cool, noch angesagt, noch prominent. Aber für MICH ist es etwas Besonders. Es ist MEIN Leben und es ist genau so, wie ich es mir wünsche.
Vor ein paar Jahren lebte ich kurz in Berlin. Ich kenne die Großstadt also gut. Aber ich habe mich dafür entschieden, wieder in die Provinz zu ziehen. Warum?
- Hier weiß man alles über jeden. Keine Frage: Es wird viel getuschelt und geredet. Auch eine Kleinstadt lebt von ihren Menschen und den Geschehnissen um sie herum. „Hast du schon gehört …“, fangen viele Gespräche an. Ich mag diese netten, liebevollen Gespräche, die persönlichen Begegnungen, zufällig auf der Straße, im Supermarkt, an der Tanke. Überall vertraute Gesichter, wie schön.
- Die Familie ist vor Ort. Was für ein Segen. Mutter spielt Babysitter, Bruder hilft bei der Zaun-Reparatur, Vater kennt den Banker…falls man den überhaupt braucht. Ich könnte theoretisch überall anschreiben lassen. Mein Bäcker war in der gleichen Schule wie ich – und seine Kinder und meine Kinder auch. Wir hatten sogar die gleichen Lehrer. Und die gleiche Extemporale in Bio über den „Raps“.
- In der Provinz braucht man keinen Schönheitschirurgen und wir machen auch keine Diät. Den hitzigen Wettbewerb um Jugend, glatte Haut und Untergrößen, wie er in jeder Großstadt tobt, den gibt es hier nicht. Wir kriegen Falten und manchmal rundliche Hüften, aber unsere Männer finden uns trotzdem toll und schauen nicht nach anderen. Das ist sooo stressfrei.
- Ich weiß noch, als ich in Berlin lebte, da war mein Style ostentativ ironisch und möglichst cool. Wir belächelten die spießigen Landpomeranzen-Touristinnen und fühlten uns überlegen. Wie anstrengend das war. Heute ist mein Look entspannt: Jeans, Sweater, Cabanjacke. Klassische Basics und flache Schuhe dazu. Ich sehe modern aus, aber nicht wie ein Hipster Mädchen, das sich jeden Tag müht, möglichst angesagt auszusehen.
- Durch meinen Ausflug nach Berlin habe ich auch gelernt, dass man Kinder besser in der Kleinstadt aufzieht. Es ist wichtig, sein Kind glücklich zu sehen. Nirgendwo können Kinder so behütet aufwachsen, wie in der Provinz. Fern von den Gefahren und Verführungen einer Großstadt. Mein Sohn kann hier noch auf der Straße spielen. Es ist eine 30er Zone – und keiner brettert mit 70 Sachen durch.
- Unsere Nachbarskinder malen mit Kreide auf der Straße und der Zusammenhalt in unserem Viertel ist beispiellos. Wir kennen uns, wissen wie die Freunde unserer Kinder aussehen und wie sie heißen. Wir wissen, wann die Nachbarn zum Sport gehen, zum Stammtisch oder ihren kinderfreien Abend genießen.
- Klingeln Fremde an der der Tür, wird hingeschaut, gewarnt oder im Ernstfall sogar eingegriffen. Und schmeißt einer `ne Party, werden die Nachbarn selbstverständlich mit eingeladen.
- Zum Ärger unserer Kinder sind wir in unserer Stadt gut connected. Ich rede nicht von Stalking, aber ich könnte, wenn ich wollte. Ein Telefonanruf, und ich weiß genau wo mein Teenager sich herumtreibt, wann er welche Lokalität verlassen hat und wer dabei war. Selbstverständlich bekomme ich auch alle nötigen Infos über den Kumpel, der mit ihm das Haus verlassen hat. Seine Mutter wird sofort verständigt: „Habe gerade mit Alex aus dem Pub telefoniert. Die Drei haben sich gerade auf den Weg nach Hause gemacht. Sind in 8 Minuten da.“
- ACHT Minuten sind bei uns übrigens eine Ewigkeit. Diese nicht enden wollenden Fahrtzeiten und Langstreckenwege in Großstädten! Nicht in der Provinz. Keine S-Bahn, U-Bahn, kein Bus, kein Taxi nötig. Mit dem Fahrrad erreicht man sein Ziel in maximal 20 Minuten, eine tolle Sache.
- Wir bräuchten nicht einmal Social Media, um uns zu verabreden. Jogge ich morgens gemütlich am Rhein entlang, treffe ich die Clique sowieso und verabrede mich – per Zuruf!
Offensichtlich wird es langsam wieder angesagt, in der Provinz zu leben. Ich kenne Berliner Freunde, die einen Umzug erwägen oder sich ein Wochenend-Häuschen hier zugelegt haben. Der Tourismus boomt und die Mietpreise in den Metropolen tun ihr Übriges. Raus aus der großen Stadt, hinein in die Tiefen der Spießigkeit – das war mal. Denn mehr und mehr Menschen, besonders junge Familien wie wir, wissen es wieder zu schätzen, die Kinder sorgenfrei aufwachsen zu sehen. Sie geniessen es, mit dem Fahrrad in den Job zu radeln oder die Mittagspause auch mal zu Hause zu verbringen. Und kein „Network“ zu haben, sondern wahre Freundschaft
P. M.
Fotoquelle: Instagram
Der Beitrag spricht mir aus dem Herzen. Ich wohne auch ländlich und möchte dies nicht missen. Mein Sohn ist zum Studium weg und kommt immer wieder gerne nach Hause.
Hier sind Freundschaften schon im Kindergarten entstanden.
Ich finde es auch immer schön, wenn ich bei uns in der Kleinstadt unterwegs bin und
hier und dort gegrüßt werde oder mal auf ein kurzes Gespräch stehen bleibe.
Aber wie das so mit allem ist hat jedes Leben ob in der Stadt oder auf dem Land Vor- und Nachteile!
Liebe Frau Dreifürst!! Wir mussten einfach mal eine Lanze für die sogenannte Provinz brechen. Das Leben ist hier ganz besonders lebenswert und das wollten wir zum Ausdruck bringen! Eine schöne Woche, Annette Weber