Heute ist der schlimmste Tag meines Lebens. Es ist keiner gestorben und ich bin auch nicht unheilbar krank. Ich bin nur unheilbar desillusioniert. Ich sitze am Frühstückstisch, vor mir eine große Tasse Milchkaffee und ein grauer trüber Oktobertag voller Regen und Tränen. Ich sitze am Frühstückstisch und mir kommen die Tränen und ich heule wieder los, so wie letzte Nacht und die Nacht davor.
Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich an einer Klippe hänge, ein realistischer Traum, ich schrie um Hilfe und da standen meine Freundinnen Su und Mo und wandten sich ab. Sie gingen einfach davon und ließen mich…hängen. Ich wachte auf und heulte.
Auch im wirklichen Leben haben mich meine Freundinnen hängen lassen. So richtig mies und gemein. The Winner Takes It All heißt ein Song von Abba und The Winner, das sind Su und Mo, die jetzt wahrscheinlich zusammen beim Tee sitzen, über mich lästern und lachen.
Su und Mo sind meine besten Freundinnen. Gewesen muss man sagen. Wir sind alle Jahrgang 75′ und unsere Kinder besuchen das gleiche Gymnasium, wo wir uns kennen lernten. Gleich beim ersten Elternabend hat es zwischen uns „gefunkt“, wir setzten uns neben einander, verstanden uns gut, trafen uns beim nächsten Elternabend wieder und arbeiten seitdem, seit 4 Jahren also, zusammen im Theater Workshop der Schule. Mo hat Theaterwissenschaft studiert und suchte die Stücke aus, die gespielt wurden. Su war die Regisseurin und ich habe die Kostüme geschneidert. Wir waren zu fünft. Meine Mädels und zwei Lehrer. Wir spielten meist Stücke von Anton Tschechow, Der Bär, Onkel Wanja und Drei Schwestern.
Die Theater AG hat uns zusammen geschweißt. Gerade vor den Schul Aufführungen saßen wir jeden Abend zusammen bei Proben und Besprechungen. Es hat Spaß gemacht, es war kreativ – anregend und aufregend. Es gab meinem Leben Schwung und Inhalt. Ich fühlte mich wichtig und gebraucht. Wir hatten Erfolg. Zur Aufführung von „Der Heiratsantrag“ kam sogar ein Redakteur der lokalen Tageszeitung und veröffentlichte einen Artikel. Mit Foto! Es war das Foto meiner Tochter Sarah, in der Rolle als Natalja. Die Söhne von Mo und Su spielten in dem Stück auch mit, den Gutsbesitzer und den Kavalier, waren aber nicht auf dem Foto zu sehen. Das hat man mir wohl übel genommen.
Jedenfalls waren wir Frauen eng befreundet. Wir trafen uns jeden Morgen in „unserem“ Starbucks und tranken Matcha Latte und besprachen das Leben. Su und Mo sind Hausfrauen und können sich die Zeit einteilen. Ich arbeitete drei Mal die Woche in einer Kommunikations-Agentur. Als Buchhalterin, ich muß ein bißchen dazu verdienen, ich bin geschieden und allein erziehend. Wir sprachen über unsere Kinder, die Lehrer, die unverschämten Preise im Bio-Markt und natürlich auch über unsere Ehemänner, bzw. Ex-Ehemänner. Su hatte eine schwierige Beziehung. Ihr Ehemann Lutz war fremd gegangen und sie hatte schwer damit zu kämpfen. Sie hatte jegliches Vertrauen in ihn verloren, aber auch ihr Selbstbewusstsein und so kontrollierte sie sein Handy, seine Kreditkartenabrechungen, sein ganzes Leben. Wir waren in alles eingeweiht und „interpretierten“ mit ihr sein seltsames Verhalten. Oft rief Su auch nachmittags oder abends bei mir an, wenn Lutz mal wieder etwas „verdächtiges“ angestellt hatte. Wir telefonierten dann stundenlang oder sie kam kurz noch einmal bei uns vorbei, wir wohnen ja in der Nähe.
Eigentlich war ich von Anfang an die Kummerkasten Tante. Der Seelenmülleimer für die anderen. Ich hörte geduldig den immer gleichen Stories zu und fand tröstende Worte. Ich „entlastete“ Su auch so gut ich konnte und holte unsere drei Kinder Mittwochs vom Jugend-Orchester ab, direkt nach der Agentur und chauffierte die Kids dann heim. Ich passte auch abends oft auf oder lud die Kinder zum Sleepover ein, wenn Su und Mo mit ihren Männern mal einen romantischen Abend zu zweit verbringen wollten. Oft war das der Freitag, dann kochte ich Gulasch mit Semmelknödel, das ist das Lieblingsessen der Truppe. Dank? Vielleicht mal am Anfang eine Flasche Wein. Aber die Sleepovers wurden immer selbstverständlicher.
Ich bemerkte das lange nicht. Ich bin ein hilfsbereiter Mensch, ich kümmere mich gerne, aber irgendwann wurde ich gar nicht mehr gefragt, ob das mit Freitag übernachten klappt. Es war zunehmend sogar so, dass die beiden Paare miteinander ausgingen. Und ich alleine daheim saß. Die gingen zusammen ins Mezza Luna, das ist der angesagte In-Italiener – und ich saß daheim. Irgendwann traute ich mich, etwas zu sagen.
An unserem gemeinsamen Abend im Mezza Luna lernte ich Coco kennen. Er arbeitet dort an der Bar. Ein typischer Italiener, nicht so groß, aber ganz gut aussehend mit schönen, schwarzen Haare und unglaublich tiefen Augen. Coco ist Barrista, das ist in Italien ein angesehener Beruf. Und er ist 10 Jahre jünger als ich. Ich muss das dazu sagen, weil es später noch wichtig wird.
Ich weiß bis heute nicht genau, warum Coco mich am nächsten Tag auf Facebook anschrieb. Er sagt, ich hätte einen süßen Schwips gehabt und sei überhaupt der liebevollste Mensch, den er je getroffen hätte. Auch Coco ist der liebevollste Mensch, den man sich nur vorstellen kann. Er ist total ehrlich, gerade heraus, lustig und verständnisvoll. Wir gingen tanzen, Radfahren, schwimmen und wandern, wir lachten miteinander, ich war verliebt. Es war eine romantische, süße, heimlich und glückliche Affäre, die ich niemandem anvertraute: außer den Freundinnen.
Leider konnten Mo und Su meinen Coco von Anfang an nicht leiden. Du mit Deinem Kellner frotzelten Sie. Du mit Deinem Toyboy, Du mit Deinem jugendlichen Lover, Du mit Deinem Italiener. Am Anfang sollte es wohl lustig sein, aber es war einfach nur verletzend. Ich mochte Coco gern, er tat mir gut – und war ehrlich zu mir. Im Gegensatz zu Su’s Ehemann Lutz, der mittlerweile eine Affäre nach der anderen hatte. Und Mo’s Göttergatte Hein ist eh ein angeberisches Arschloch, der einen Porsche fährt und Mo behandelt wie ein Stück Dreck.
Am Abend der letzten Schulaufführung gingen wir alle zusammen mit den Kindern ins Mezza Luna. Coco arbeitete im Service, weil ein Kollege ausgefallen war. Es kam wie es kommen mußte. Hein machte „ein Späßchen“ wie er sagte und redete zu Coco in so einem doofen Kanacken Deutsch, so wie Deutsche sich vorstellen, dass Italiener Deutsch reden, es war nur peinlich und auch gemein. Coco lachte gezwungenermaßen, aber Hein wurde betrunken und lauter und unverschämter. Auch die anderen machten schließlich mit und riefen immer Spaghetti, Amore, Famoso und so blöde Worte, ich weiß, das klingt jetzt nicht so schlimm, aber es war schlimm. Schlimm und entwürdigend. Irgendwann konnte ich ich mich nicht mehr zusammen reißen und schrie in die Runde dass sie jetzt endlich aufhören sollten. Mir kamen die Tränen, aber Hein sagte nur ich solle mal runter kommen, mich nicht so aufführen und dann ganz ordinär: hat er Dich nicht gut gebumst, Dein kleiner Spaghetti? Das war …. zuviel. Ich rannte aus dem Lokal und heim. Meine Tochter Sarah kam hinterher, sie wußte ja nichts von der Affäre mit Coco! Sie stellte bohrende Fragen und fand mich peinlich. MICH!
Am nächsten Morgen wollte ich der Mädels-Rund die Meinung sagen. Aber keiner kam. Auch am Tag darauf stand ich alleine im Kaffee. Irgendwann rief Su an. Sie war kurz und schnippisch. Okay, wir treffen uns mit Dir, aber nur wenn Du Dich entschuldigst. ICH? MICH? ENTSCHULDIGEN? Warum? Ihr habt doch Coco und damit auch mich beleidigt?
Wir trafen uns im Starbucks, es war ein Tribunal. Mo und Su ließen an mir kein gutes Haar. Du in Deinem Alter mit so einem Typen, schämst Du Dich nicht? Was, wenn Deine Tochter davon erfährt? Der will doch nur Dein Geld, das sieht man doch. Und über Coco: Ein Kellner, das ist inakzeptabel. Wir werden den nie akzeptieren. Der kann ja nicht mal richtig Deutsch. Der passt nicht zu uns. Du musst Dich entscheiden. Der oder wir.
Entsetzt lief ich heim. Die können mich mal, dachte ich. Und versuchte mit Sarah zu sprechen. Aber da ging schon der Versuch nach hinten los. Sarah wollte partout nicht mit mit reden. Sie sagte das klipp und klar und äußerst verletzend. Und am nächsten Tag, als die Theater AG wieder tagte, kam das jüngste Gericht. Es sollte um die Kostüme für die neue Aufführung gehen. Aber die Leiterin der AG, Sarahs Mathe Lehrerin, nahm mich zur Seite und sagte, dass es ihr leid tue, aber es würden dieses Jahr die Kostüme von einer anderen Mutter gefertigt. Die hätte schon lange Interesse…..ich konnte nicht mehr zu hören, mir zog es den Boden unter den Füßen weg. Die Theater AG war doch MEINE Heimat, mein Herz und mein Hobby. Ich wußte, dass diese plötzliche Absage von Mo und Su kam. Kommen mußte.
Wie umgehen mit sozialem Druck? Ich kann das nicht. Ich brauche Harmonie. Ich halte es nicht aus, wenn ich das Gefühl habe, dass die Leute hinter meinem Rücken tuscheln. Ich rief Coco an. Ich sagte ihm, dass wir uns nicht mehr sehen können. Er war entsetzt, wollte mich sofort sehen, konnte es nicht glauben, heulte am Telefon und bettelte. Am Ende heulte ich auch. Es war ein schlimmes Gespräch.
In meiner Verzweiflung rief ich Su an. Sie war nett. Sagte, ich solle am nächsten Morgen ins Starbucks kommen. Da saßen sie dann zu viert an einem kleinen Tisch. Mo, Su und noch zwei andere Mütter. Sie lachten und scherzten und nahmen mich nicht wahr. Kein Platz für mich. Keiner stand auf und keiner sagte, komm, setzt Dich zu uns. Es war: eindeutig. Ich war unerwünscht. Es war: der schrecklichste Moment meines Lebens.
Das ist jetzt drei Tage her. Seitdem warte ich auf den Anruf von der Theater AG. Dass ich die Kostüme wieder machen darf. Sie wissen doch jetzt, dass ich die Affäre mit Coco beendet habe. Aber es kommt kein Anruf. Und nachts liege ich alleine im Bett und es ist auch keiner mehr da, der mich tröstet. Den habe ich geopfert. Für was?
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