In Deutschland ist man pünktlich, es gehört zu unserer DNA wie Fleiß, Besserwisserei und die Liebe zum Fußball.
Wenn ich sage, ich komme um 8 Uhr, dann bin ich Schlag 8 an der Klingel. Um Gottes Willen, sagt Viky, denn bei ihr zuhause wäre das ein schrecklicher Affront dem Gastgeber gegenüber. Der steht da nämlich noch unter der Dusche.
Andere Länder, andere Sitten, anderes Zeit-Verständnis!
In Mailand oder auch in Paris – in den Modehauptstädten – lacht man über uns Deutsche, weil wir die einzigen sind, die Modeschau Anfangszeiten ernst nehmen. Ist eine Show für morgens um 10 Uhr terminiert – die Deutschen stehen zur Sicherheit schon seit 9.45 Uhr vor den verschlossenen Türen. Die Italiener kommen nicht vor 10.20 Uhr, um dann aber erst mal gemütlich einen Espresso zu trinken. Die Franzosen kommen um 10.35 Uhr, los geht die Show – mit Glück – um 10.45 Uhr. Genaues weiß keiner. Ist ja auch egal, weil es alle so Hand haben.
Mich stresst diese Unpünktlichkeit total, ich mag’s lieber geregelt. Ich will wissen, auf was ich mich einstellen muß. Ich kann es auch nicht leiden, wenn ich in einer Arztpraxis warten muß. Der Termin ist 17 Uhr, warum komme ich dann um 18 Uhr erst dran? Haben die den Laden nicht im Griff? Bei anderen Praxen funktionieren Termine ja auch reibungslos….
Wie gesagt, jeder hat seine eigenen Vorstellungen von Pünktlichkeit. Und klar drückt man ein Auge zu, wenn der Teenager erst viertel NACH neun daheim ist, statt exakt mit dem Glockenschlag. Oder die Freundin im Stau steht, die S-Bahn verpasst oder die Kinder abends einfach nicht zum einschlafen bringt. Geschenkt! No worries.
Was NICHT geht, ist Zuspätkommen im Job. Im Berufsleben ist Pünktlichkeit ein eindeutiger Indikator für Sorgfalt und Zuverlässigkeit.
Das fängt schon mit dem Bewerbungsgespräch an. Wer da nicht rechtzeitig…..JA, es gibt diese Pappenheimer. Viele sogar. Als junge Chefin habe ich mir die ganzen blöden Ausreden sogar noch angehört. Verständnis hatte ich nie. Bei SO einer wichtigen Sache rechnet man mit allem, auch mit Stau, Regen, U-Bahn Ausfällen oder dem Wasserrohrbruch, kein Witz, ich erinnere mich an sehr viel junge Designer, die ALLE plötzlich Wasserrohrbrüche hatten, exakt an dem Tag, als ihre Kollektion eigentlich bei mit hätte sein sollen aber nicht kam, wegen der morschen Sanitär-Situation. Ganz Deutschland voller Wasserrohrbrüche! Einmalig….
Später ließ ich verspätete Bewerber schon am Empfang abweisen. Meine Assistentin fand nette Worte, irgendein politisch korrektes blablabla, auf keine Diskussionen einlassen. Ganz klar: junge Frauen, die sich um eine Stelle bewerben, haben eine erste große Visitenkarte. Und das ist ihre Pünktlichkeit.
Auch zu unseren Redaktionssitzungen, täglich Punkt 10 Uhr, gab es äußerst selten Ausfall.Das hätte sich keiner getraut. Übrigens nicht nur mir gegenüber, sondern auch den anderen gegenüber. Wie frech, wenn man 40 Leute warten lässt!
Da ich nun meine eigene Firma leite, bin ich etwas unabhängiger von festen Redaktionskonferenzzeiten, wir sind ja auch nur ein kleines Team. Dennoch komme ICH jetzt durcheinander. Ich schaffe keine Punktlandung mehr. Das wäre eigentlich egal, weil wir keine fixe Konferenz haben.
Aber MICH ärgert es. Irgend etwas ist mit meinem Time Management durcheinander gekommen.
Dabei bin ich der krasse Early Bird, ab 5.30Uhr in der Früh checke ich Mails und Social Media, dann Zeitungen, Familienfrühstück, Sport…..erste Telefonate….und dann…kommt eine fast schon masochistische Ader in mir hervor. Ich trödele!
Ich stehe gemütlich vor dem Spiegel und lege Lippenstift auf. Oder suche in aller Ruhe nach dem WIRKLICH passenden Schuh. Oder ratsche seelenruhig mit meiner Haushälterin über die Kinder. Es ist nicht so, dass wir keine Uhren daheim haben. Auch das gute Stück an meinem Handgelenk informiert mich, dass ich jetzt mal Gas geben muss. ABER: ich trödele. Wie ein aufsässiger Sechstklässler lasse ich mir viel zu lange Zeit für alles.
Und warum? Ich weiß es (noch) nicht. Aber ich werde es raus finden. Und so lange genießen, dass ich unabhängig bin von festen Arbeitszeiten, von daheim aus einiges erledigen kann – übrigens auch nach dem klassischen Feierabend, wie mein zu spät kommender Teenager neulich pfiffig bemerkte. Mama, ich mache Überstunden. Genau wie Du!