5.13 Uhr. Pink blinken die Zeichen der Digitaluhr, zeigen kalt die frühe, späte, umbarmherzig unwirkliche Uhrzeit an. Tom ist noch immer nicht da. Die Bettseite neben Susanne ist leer. Sie wälzt sich hin und her, Gedanken kreisen im Kopf, vertreiben Müdigkeit und Ruhe, Susanne ahnt, weiß, dass das alles kein gutes Zeichen ist.
Tom ist nicht da und wenn er kommt, falls er kommt, wird er wieder stumm und leise neben sie kriechen, so still, dass sie nicht merken soll, dass er da ist, aber natürlich registriert sie alles, jede Kleinigkeit, seinen rasenden Puls, seine kalten Füsse, sein Atem aus Zigaretten und Alkohol, sie riecht das Parfum einer anderen Frau.
Susanne ist panisch. Eine Frau, die ihren Mann liebt, weiß, was los ist – auch wenn er nichts sagt. Gerade, weil er nichts sagt. Dieses schreckliche, heimtückische Schweigen macht sie fertig. Es ist ein verlogenes Nicht-Sagen, aggressiv und brutal. Ein Problem ist die Diskrepanz zwischen Wissen und Nichtwissen, hat sie mal gelesen, das stimmt.
Susanne weiß nicht faktisch, dass Tom sie betrügt. Aber sie fühlt es. Instinktiv. Und natürlich hofft sie. Hofft, dass ihr Bauchgefühl sie trügt, dass sie das alles….sich nur einbildet. Hin und hergerissen zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Nichtwissen und Befürchten, Susanne dreht durch.
Sie steht auf, geht in die Küche und drückt sich eine Tavor ins Wasserglas. Wenn Tom jetzt kommt, ist sie ruhig, dann gibt es keine Diskussionen, wie beim letzten Mal, als alles so schrecklich eskalierte.
Susanne und Tom sind seit 4 Jahren zusammen, sie arbeiten beide als Rechtsanwälte, sie bei einer Wirtschaftskanzlei, er in der Rechtsabteilung eines großen TV Senders. Eine typische Großstadt Beziehung, die als Affäre begann und mit einer gemeinsamen 150 qm Wohnung…endete?
Susanne weiß nicht, wie das alles weiter gehen soll. Seit Wochen ist Tom abwesend. Physisch und psychisch. Es ist die kleine Referendarin, die Tom den Kopf verdreht hat. Susanne ist sich da sicher. Die ist es. Muss es sein. Warum kommt er denn sonst immer später nach Hause. Oder „übernachtet“ im Büro oder ist auf „Geschäftsreisen“. Es ist die kleine Referendarin. 23, fast noch ein Kind. Susanne weiß noch genau, wann Tom anfing über die Kleine zu sprechen. Am Anfang, vor einem halben Jahr, da sprach Tom viel über das Mädchen. Susanne hatte sofort ein mulmiges Gefühl. Eine liebende Frau wittert Gefahr. Aber Tom wiegelte ab. Er war fasziniert von der Kleinen, sie war schüchtern und unsicher und doch irgendwie stark und autonom. Sie jobbte nebenher bei einem linken Jugend-Theater und das gefiel ihm. Irgendwie. Tom hatte noch nie Interesse an Kultur, schon gar nicht an Theater. Und plötzlich….verfasste er Anwaltsschrieben für die Mitglieder vom Ensemble, die in Schwierigkeiten waren. Susanne fand das Anfangs nett, aber dann zunehmend seltsamer.
Jugend-Theater. Tom ist 36, was soll das?
Susanne ist 35, ein Jahr jünger als Tom, aber sie fühlt sich so viel älter. Sie ist und war immer die Vernünftige in der Beziehung. Sie hat den verrückten Tom auf Spur gebracht. Was hat sie auf ihn eingeredet, das zweite Staatsexamen zu machen. Sie hat ihn gecoacht. Sie hat die gemeinsame Wohnung gefunden, eingerichtet, sie hat seine Garderobe auf Vordermann gebracht. Sie hat ihm den Job beim Sender organisiert. Und plötzlich wurde aus dem ausgeflippten Tom, der nachts durch die Kneipen zog, ein Karrieretyp. Innerhalb kürzester Zeit stieg er zum Justitiar auf und nun das Angebot vom Vorstand….
Die Wohnungstür knarzt, Susanne hört, wie das Schloss matt klackt und leise Schritte in den Flur treten. Ihr Herz rast bis zum Anschlag. Es ist Tom.
Tom, der Vater ihrer künftigen Kinder. Tom wäre ein guter Vater. Hat sie sich vorgestellt. Gehofft. Erträumt. Susanne möchte dringend Kinder. Wenigstens EIN Kind. Die biologische Uhr tickt. Lange hat sie keine Zeit mehr, die Zeit arbeitet gegen Frauen und für Männer. Männer wie Tom, die mit 36 noch mal auf jung machen. Ausgehen. Party feiern. Und vom Kinderwunsch der Freundin nichts wissen wollen. Ich bin noch nicht so weit, hat Tom immer gesagt, wenn sie davon anfing. Aber wann ist er DANN soweit? Wie lange soll sie warten? Noch ein Jahr? Oder zwei? Lass mir noch ein bißchen Zeit – das sagt er, seit sie zusammen sind.
Susanne hat es von Anfang an deutlich kommuniziert: Ich MÖCHTE heiraten. Ich MÖCHTE Kinder. Ich MÖCHTE eine Familie. Was ist denn daran falsch? Wollen das nicht alle Frauen? Warum hat er sich auf sie eingelassen, wenn er das alles nicht will? Hat sie, Susanne, die sich liebevoll um das Leben von Tom sorgt, hat SIE nicht auch das Recht glücklich zu sein? Ist das Leben nicht ein Geben und Nehmen? Oder ist es etwa doch nur eine schreckliche Einbahnstrasse, auf der sie keinen Rückweg findet?
Tom erschrickt, als er Susanne in der Küche stehen sieht. Er starrt auf ihr Wasserglas, auf ihre Tablettenschachtel, es ist kein liebevolles Sorgen-Starren, es ist ein kühles, abschätziges Ekel-Starren, sie weiß ja, dass er es schrecklich findet, dass sie Beruhigungspillen nimmt, dass er es ablehnt und abstossend findet, aber indem er das tut, zeigt er ihr auch Zuneigung und Interesse – oder etwas nicht?
Was soll das… fragt Tom’s Blick und Susanne sagt: Wo kommst Du her?
Wo soll er her kommen, denkt sich Susanne. Von der Referendarin. Er riecht nicht nach Alkohol, er ist nicht betrunken. Er sieht nicht einmal müde aus. Er kommt direkt aus dem Bett der Referendarin.
Beim Fussball Turnier hatte Susanne die Referendarin zum ersten Mal live gesehen. Der Sender hatte dieses Jux Turnier veranstaltet, es waren sogar ein paar bekannte Schauspieler und Moderatoren da. Es war eine lustige, ausgelassene Atmosphäre, die Sonne schien und alle waren ein bißchen betrunken. Die Referendarin half an der Bar, Susanne sah sie vom Weitem und wußte, dass sie DAS ist. Die Referendarin. Ihre Feindin. Ihre Gegnerin. Ihre Gefahr. Wie sie da stand mit den langen Beinen in den knappen Jeans-Shorts, den langen blonden Haare, offen und verwuschelt, wie es nur an Zwanzigjährigen gut aussieht, frivol fand Susanne den Look der Kleinen und das sagte sie Tom, der das natürlich anders sah.
Von da an stritten sie sich häufig und fast immer gibt es um die Kleine. Tom erzählte von ihr, erzählte viel, sie kreiste also in seinen Gedanken, aber Susanne schaffte es nicht, NICHT gemein zu sein. Sie wäre gerne souverän geblieben, hätte alles mit ihrer Seniorität eingeordnet und bewertet. Aber aus ihrem Mund kamen Kröten. Unverschämtheiten. Sie hasste die Kleine und konnte das nicht unterdrücken. Je mehr Tom erzählte, desto hilfloser fühlte sich Susanne. Kurz vor Weihnachten lies sie sich vom Arzt dann diese Tabletten verschreiben. Sie war nah am Burnout. Konnte schlecht schlafen, wachte mitten in der Nacht auf und wälzte Probleme. Manchmal weckte sie Tom auf. Das war im Endeffekt aber keine gute Idee, denn Tom brauchte seinen Schlaf ja auch.
Vor der Weihnachtsfeier vom Sender nahm Susanne zum ersten Mal Tavor. Wie easy sie danach den Abend überstand. Sie war Watte. Weich und warm. Es machte ihr nichts aus, dass sie am Tisch mit der Referendarin saß, es machte ihr nichts aus, dass Tom, als Susanne nach Hause wollte, noch blieb.
Weihnachten verbrachten Tom und Susanne wie immer getrennt von einander bei den jeweiligen Eltern. Das war nicht neu und doch war diesmal alles anders. Krampfig. Unnatürlich. Susanne schob Panik, ob Tom anrufen würde, sie saß wie ein Kaninchen neben dem Telefon, wie ein verliebter, verwirrter Teenager – und nicht wie eine erwachsene Frau. Die Telefonate waren knapp und nüchtern. Was gab’s bei Euch, wann bist Du ins Bett, solche Sachen. Susanne fühlte, dass etwas nicht stimmte.
Silvester „feierten“ beide bei Freunden im Bayerischen Wald, ein Horrortrip, den Susanne gerne rückgängig machen würde. Sie stritten ohne Unterlass und Susanne sagte Tom auch zum ersten Mal auf den Kopf zu, was sie befürchtete: dass er ein Verhältnis hatte. Tom stritt alles ab. Du spinnst doch. Käse. Quatsch. Sie stritten und stritten. Du bist schuld, dass ich Beruhigungstabletten nehme, warf Susanne Tom an den Kopf. Natürlich war das ein Fehler. Susanne wußte es in dem Moment, als sie es ausgesprochen hatte. Sie ganz allein hatte die Entscheidung getroffen, diese Pillen zu schlucken, sie ganz allein. Natürlich hatte Tom keine Lust den Sündenbock zu spielen. Er machte sich zwar Sorgen. Und versuchte ihr zu „helfen“. Aber die Gespräche endeten alle gleich: im Streit. Und noch etwas war anders: Tom sprach nicht mehr von der Referendarin. Er verschwieg sie. Das machte alles noch schlimmer. Denn sie war ja da, sie stand zwischen ihnen. Sie existierte. Und je mehr Tom schwieg, desto nervöser wurde Susanne.
Sie schaut ihn an, wie der da steht, mit den neuen Jeans, die er sich letzte Woche gekauft hat, nicht ganz frisch, nicht rasiert, die Haare verwuschelt, süß und verwegen, sie will ihn halten, sie will ihn umarmen, sie will doch einfach nur, dass er sie liebt, sie jetzt in den Arm nimmt und sagt: alles ist gut.
Aber Tom geht einen Schritt auf die Seite und sagt ruhig: Susanne, wir müssen reden.