Er ist dünn, schmächtig und blass. In jeder Weise. Er ist , glaube ich, 48 Jahre alt, er könnte aber auch 60 sein – zumindest geistig befindet er sich schon im Vorruhestand. Beziehungsweise er ist irgendwann in den 80er Jahren stehen geblieben. Das sieht man schon an seinem Styling mit den viel zu weit geschnittenen Anzügen und karierten Hemden.
Ich arbeite in einer Werbeagentur, wir produzieren Kataloge und Broschüren. Mein Job ist die Auftragsannahme für die Grafik, teils kreativ, teils Verwaltung. Früher liefen die Geschäfte gut, aber dann kam das Internet. Unsere Firma wurde vor 2 Jahren an einen Konkurrenten verkauft. Dem obersten Boss wurde gekündigt, aber mein Chef sitzt immer noch auf seinem Posten. Man hat ihn dort wohl vergessen. Vielleicht befürchtet er insgeheim, dass er auch bald weg muß. Und agiert deshalb so hilflos, ängstlich und paralysiert und tut: NICHTS. Warum ist er nicht mutiger, entwickelt Ideen oder greift unsere wenigstens auf?
Mein Chef ist unorganisiert.
„Ich gebe Ihnen Info.“ Das ist sein liebster Satz, der in unserer Abteilung immer wieder für Lacher sorgt. Mein Chef löst dringliche, nicht aufschiebbare Probleme, Anfragen oder Angelegenheiten grundsätzlich NIE. Er traut sich einfach nicht Entscheidungen zu treffen. Er wägt ab und grübelt und dann hört man nichts mehr. Die Dokumente/Probleme/Anfragen verschwinden in den unendlichen Weiten seiner Ablagestapel, die sich über seinen kompletten Schreibtisch verteilen. „Ich gebe Ihnen Info“ heißt übersetzt „Ich verhalte mich ruhig, tue nichts und hoffe, dass sich das Problem sich von selbst erledigt.“
Mein Chef ist cholerisch.
Es ist immer das Gleiche: wenn wir, die auf Kohle sitzenden Mitarbeiter, nervös bei ihm nachhaken, gibt’s beim dritten Mal einen Rüffel – für uns! Denn EIN aufgeschobener Vorgang schiebt den nächsten, und so hängt der ganze Workflow und den Letzen beißen die Hunde. Dann merkt mein Chef, dass ER wieder einmal etwas vergessen hat. Er flippt aus und schreit: „Sie hätten mich daran erinnern müssen!“. Zum lachen?
Mein Chef ist eine Witzfigur.
Wir können ihn nicht mehr ernst nehmen, aber das ist nicht zum lachen. Sogar Arbeitskollegen, die lange zu ihm standen sehen mittlerweile, was offensichtlich und nicht länger zu verbergen ist. Er sitzt auf seinem Stuhl, keiner weiß was er eigentlich hier tut.
Mein Chef ist vergesslich.
Er fährt in die Pfingstferien und vergißt uns mit zu teilen, dass zwei Praktikantinnen anfangen. Wir haben weder Sitzplätze noch genügend Arbeit für die armen Dinger. Oder er „vergisst“ die Zeit. Oft besucht ihn unser pensionierter Drucker, dann sitzen sie stundenlang und es ertönt Gelächter und sie trinken Wein. Aber wenn er uns am Kaffeeautomaten im Kollegengespräch „erwischt“, gibt’s einen doofen Spruch.
Mein Chef hat keine Kompetenz.
Er kam in die Position des Abteilungsleiters vor 5 Jahren, als die Geschäfte noch besser liefen. Wir erwirtschafteten Umsatzplus trotz meines Chefs, aber nicht wegen ihm. Eigentlich ist er gelernter Großhandelskaufmann. An sich eine seriöse Ausbildung – aber eben nicht für uns. Er ist ein Quer-Einsteiger oder vielmehr Aufsteiger, vom obersten Boss auf die jetzige Stelle gehievt, weil er von ihm keine Konkurrenz befürchtete. Zurecht: nach 5 Jahren beherrscht mein Chef noch immer nicht unser Computer System, sein Englisch ist peinlich und im Kundenkontakt schweigt er oder schwitzt.
Mein Chef hat keine emotionale Intelligenz.
Irgendwann bekam er mal eine Führungskräfteschulung. Als ob man Führungsqualitäten lernen könnte! Oder einen souveränen Umgang mit Mitarbeitern. Plötzlich klebten überall gelbe Memozettel mit aufmunternd gemeinten Kommentaren wie „Gut gemacht!“ oder wahlweise: „Sie können jederzeit zu mir kommen, meine Tür steht offen.“ Das ist natürlich Quatsch. Seine Tür ist grundsätzlich geschlossen. Außerdem mißt er mit zweierlei Maß. Er geht stundenlang in die Mittagspause. Führt ewige Privatgespräche mit seiner Frau und wenn es um die Ferienplanung geht, müssen sich alle nach seinen Plänen richten. Auch wir, die Frauen mit schulpflichtigen Kindern.
Mein Chef demotiviert und ist überfordert.
Letzte Woche kam es zum Showdown bei einer Teamsitzung. Eine junge Kollegin hatte eine tolle Idee, eine lustige Aktion auf Social Media, die unsere Firma nicht einmal etwas gekostet hätte. Alle waren begeistert, aber mein Chef schmetterte den Vorschlag ignorant ab. Die junge Kollegin antwortete mit schlagkräftigen Argumenten, aber mein Chef, vollkommen in die Ecke gedrängt, beendete die Diskussion mit: „Ich bin ihr Chef. Ich will es nicht und wenn es Ihnen nicht passt, dann können Sie zur neuen Konzernleitung gehen.“ Er wollte wieder mal Angst verbreiten, aber die Kollegin entgegnete tapfer: .„Soll ich nicht mehr mitdenken?“ Da schrie mein Chef: „Das lasse ich mir nicht bieten“ und raste aus dem Büro. Die Kollegin bekam eine „Hausmitteilung“ von der Personalabteilung. Stasi Methoden sind das.
Wie es weiter geht? Die meisten von uns sind in die innere Immigration abgetaucht. Dienst nach Vorschrift. Ich reibe mich auch schon lange nicht mehr für die Firma auf. Warum auch und für wen? Ich habe zwei Töchter im Schwimmverein. Da stecke ich meine ganze Energie hinein. Die ältere Tochter ist dieses Jahr Stadtmeisterin geworden, da bin ich mächtig stolz und es ist ein Engagement, das sich lohnt!
E.E.
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