Ausgeschlossen. Wir konnten uns nicht mehr sehen. Es ging nicht. Meine Gedanken kreisten seit der Nacht auf der romantischen Dachterrasse nur noch um eines: Henry. Immer und immer wieder kamen mir Gesprächsfetzen, süße Worte, tiefe Blicke in den Sinn. In dieser Nacht habe ich meinen Mann betrogen – ohne dass irgendetwas war. Nichts hätte man der Form nach beanstanden können. Und doch hatte ich meinen Mann hintergangen. Körperliche Untreue ist nichts im Vergleich zur seelischen. Liebe und Sex sind zwei vollkommen unterschiedliche Mindsets.
Ich hatte ein rabenschwarzes Gewissen, mich plagten Gefühlswallungen zwischen Glückseligkeit und Verzweiflung. Thomas, mein Mann, bekam von all dem nichts mit. Auch die Kinder nicht. Das Leben lief seinen gewohnten Gang. Same Procedure… morgens gemeinsames Frühstück, mittags kochte ich für die Kinder, die danach zum Ballett oder zum Fußballtraining düsten und abends brachte uns das gemeinsame Abendbrot wieder an einen Tisch. Routiniert spulte ich das Programm herunter, beteiligte mich an den üblichen Gesprächen, lernte mit den Kindern Vokabeln, wechselte ein paar nette Worte mit unserer Putzhilfe…aber dazwischen schoben sich immer wieder Szenen aus der romantischen Nacht in mein Gehirn.
„Donnerstag? “ Die Message war so kurz wie elektrisierend. Zwei Wochen hatten Henry und ich uns nicht gesehen. Ich war nicht zum Training gekommen und hatte das Heimspiel unserer Fußballjungs nicht besucht. Ich wollte, dass Gras über die Sache wächst. Aus den Augen aus dem Sinn. Nein. Falsch. Ich wollte Henry nicht vergessen. Wenn ich ehrlich bin, brauchte ich einfach Zeit, um mir in Ruhe Gedanken zu machen.
Ich fing an, Thomas zu beobachten, heimlich, wenn er es nicht merkte. Ich betrachtete ihn beim essen, beim Zähneputzen, beim schlafen, wenn er von der Arbeit nachhause kam und seinen alten Mantel schwunglos in die Garderobe hievte, wenn er sich morgens sein Frühstücksei so ungeschickt pellte, dass das Eigelb erst auf den Silberbecher und dann auf die Tischdecke tropfte, die im Lauf der Woche immer fleckiger wurde. War meine Ehe nicht ein Spiegelbild unserer Tischdecken am Freitag? Abgenutzt? Und beschmutzt? Von mir?
Henry. Jung, schön, Fußballtrainer. Das wandelnde Klischee. Die wandelnde Verführung. Unser zweiter Abend auf der Dachterrasse – es sollten noch viele dieser süßen, himmlischen, unvergesslichen Nächte unter freiem Himmel folgen. Er überraschte mich mit einem „Abendessen“, ein bunter Salat, alles selbst angebaut und geerntet in seinen Hochbeeten und der Wein war biodynamisch. Ich schmunzelte. Henry las meine Gedanken und hielt einen interessanten Vortrag über die Vorzüge biodynamischer Weine, es gibt keine Kopfschmerzen, wenn man zuviel trinkt und so tranken wir die ganze Flasche. Und redeten und redeten. Henry interessiert sich für so viele Dinge, Philosophie, Kunst, Politik. Es wurde Mitternacht, es wurde 2, es wurde 3, die Stunden kamen uns wie Sekunden vor.
Er nahm meine Hand. Einfach so, out of the Blue. Er schaute mir tief in die Augen, atmete schwer. Wir hatten Sex. Mit den Augen. Nur mit den Augen. Es war dieses tiefe unglaublich innige Gefühl der Zusammengehörigkeit, des Verschmelzens. Wir sassen einfach nur da, hielten uns, schauten uns in die Augen. Mehr war nicht. Aber das Wenige war zuviel. Ich war so derartig überwältigt von meinen Gefühlen, ich spürte jede Faser meines Körpers, Herz UND Gehirn, ich war glückselig wie seit Jahren nicht mehr, nein, ich wollte DAS nicht aufgeben.
Ich fing mit Jogging an. Erst 30 Minuten, dann ein bißchen länger. Dreimal die Woche, so wie es mir Henry empfohlen hatte. Auch er hatte seine psychischen Probleme mit Sport in den Griff bekommen, war ruhiger und ausgeglichener geworden. Mir tat das häufige Laufen an der frischen Luft sofort gut. Und meiner Figur. Ich nahm ab, bekam eine straffe Silhouette. Das alles war Balsam für mein Selbstbewusstsein, ich merkte, dass ich aufblühte. Meine ersten grauen Haare ließ ich mir Honigblond färben. Ich kaufte mir Jeans. Jeans! Seit Jahren hatte ich keine mehr getragen, Thomas mochte sie nicht an mir.
Überhaupt, Thomas. Ich kenne Thomas mein ganzes Leben lang, schon aus der Schulzeit. Er war schon als Junge ruhig und bedächtig, ich fand das damals souverän und überlegen. Wie stolz ich war über seinen Abiturschnitt von 1,2! Als er in Freiburg studierte und ich ihn am Wochenende besuchte!!! Ich heiratete, brav und viel zu früh, ich wäre lieber mit meiner Freundin Kira nach nach Berlin gegangen und hätte studiert, aber ich machte eine Banklehre, es kamen die Kinder, wir kauften das Haus, es ging so schnell. Zu schnell. Ich komme erst jetzt, kurz vor meinem 40. Geburtstag dazu, mir zu überlegen, ob ICH das alles so wollte. Oder ob ES halt so kam und ich ES akzeptierte. Thomas ist inzwischen wie ein guter Freund oder ein Bruder für mich, wir führen eine Kameradenehe, ohne Sex ohne Leidenschaft. Ich mag ihn. Aber reicht das?
Das alles waren Gedanken, die ohnehin in meinem Kopf herum geisterten, unabhängig von der „Affäre“ mit Henry, die zu dem Zeitpunkt noch keine war.
Beim dritten „Dachterrassen Date“ mit Henry küßten wir uns. Wir knutschen rum, wie die Teenager, es gab kein Halten mehr. Wir knutschen jetzt ständig. Heimlich. Wenn wir uns im Verein trafen, wenn wir kurz alleine in der Umkleide waren, alleine im Treppenhaus, alleine am Parkplatz. Henry war unendlich verliebt, schrieb mir die süßesten Nachrichten und kam sogar ein paar Mal zu uns nachhause, „um mit mir das kommende Weinfest zu organisieren.“ Tatsächlich waren wir beide im Orga-Team, das Weinfest ist eine große Sache für den Verein und die Mitglieder sind aufgefordert, an unserem Sekt-Stand zu helfen und mit anzupacken.
Am Weinfest ist es dann auch passiert. Es lag in der Luft.Es konnte nicht mehr aufgeschoben werden. Die Spannung zwischen Henry und mir war unerträglich geworden, es knisterte, Hochspannung, Vorsicht, Lebensgefahr. Wir schauten uns an und gingen zu ihm in die Wohnung, wortlos. Wir hatten Sex, endlich. Sex. Sex und Zärtlichkeit. Zärtlichkeit und Sex. Stundenlang.
Die Arbeit am Weinstand hatten wir einfach liegen lassen, es war uns egal, vor allem, es war MIR egal. Es war….meine Befreiung aus meinem alten Leben und ich wollte jetzt auch, dass es jeder sieht. Gritti hat ein neues Leben. Die Vereinsmitglieder tuschelten, es war mir egal, die Dämme waren gebrochen, meine Entscheidung gefällt. Thomas begann etwas zu merken, er stellte bohrende Fragen, es war mir egal. Egal, egal, egal.
Sex mit einem jungen Adonis (Henry) ist nicht zu vergleichen mit Sex mit einem mittelalten, leicht übergewichten Glatzkopf (Thomas). Ach wirklich? Ich bin nicht so naiv, beides gegeneinander aufzuwiegen.Thomas bietet mir und unseren Kindern ein sicheres Leben. Er ist ein netter Typ. Henry bietet mir Hoffnung auf ein neues Leben. Er ist auch ein netter Typ. Es geht nicht darum, welcher Mann mir was zu bieten hat, es geht darum, dass ICH endlich MEIN Leben lebe.
Silvester habe ich Thomas verlassen. Ich begrüßte das neue Jahr mit meinem neuen Leben, mit Henry, mit Liebe, mit Sex, mit Flausen im Kopf, die vielleicht keine sind. Ich werde die Weihnachtsferien bei Henry bleiben. Ich habe einen Job in Aussicht, unser Fußballverein braucht eine Sekretärin und das könnte ich machen. Ich werde mir eine Wohnung nehmen, die Kinder holen. Keine Ahnung, ob Henry mir bleibt. Aber jetzt ist er da und es ist schön und ich werde nichts bereuen.